Am 11. Januar 1985 hielt die Welt den Atem an, als auf der Heilbronner Waldheide der Motor einer Atomrakete explodierte. Ein Feuerwehrmann machte heimlich Fotos und berichtet nun davon.
„Brand eines Lkw. Munitionsexplosion auf einem Lkw im abgesperrten Raketenbereich. Es gibt Schwerverletzte und Tote.“ So der Wortlaut einer Meldung, die am Freitag, 11. Januar 1985, 14.02 Uhr, in der Heilbronner Feuerwehrleitstelle eingeht.
Als um 14.09 Uhr die ersten Einsatzkräfte auf der tief verschneiten Waldheide eintreffen, trauen sie ihren Augen nicht: Die Tore des 55 Hektar umfassenden Atomwaffenstützpunktes stehen weit offen, die Kontrollpunkte sind verwaist. Soldaten mit Brandverletzungen irren umher, einige liegen am Boden, drei sind tot, erdrückt, verbrannt.
US-Soldaten gingen in Deckung
„Alle anderen waren verschwunden, weil sie um die Gefahr wussten“, berichtet Günter Baumann der Heilbronner Stimme. „Und als sie schwer bewaffnet mit MGs aus der Deckung kamen, wurden wir wie Schwerverbrecher behandelt. Das war brutal gefährlich, bei minus sieben Grad war wegen des Löschwassers alles spiegelglatt.“
Der pensionierte Feuerwehrmann war damals hautnah dabei. Einen Rollfilm mit Fotos habe er nur durch einen Trick unter seinem Helm aus dem Hochsicherheitstrakt schmuggeln können. Die Bilder blieben als Geheimsache lange unter Verschluss. Was Baumann an diesem „schwarzen Freitag“ noch erlebt hat, schildert der heute 69-Jährige in einer Neuerscheinung des Stadtarchivs: „Die 1980er Jahre in Heilbronn“. Zwei Dutzend Zeitzeugen beleuchten darin ein facettenreiches Jahrzehnt.
Der 11. Januar 1985 markiert nicht nur den Tiefpunkt der 80er Jahre. Er steht für einen der dunkelsten Tage der Stadt- und der Weltgeschichte. Mitten im Kalten Krieg zwischen Nato und sogenanntem Ostblock, zwischen USA und Sowjetunion, explodiert im Heilbronner Stadtwald der Motor einer Pershing-II-Atomrakete. Einer der am dichtesten besiedelten Ballungsräume Europas entgeht knapp einer atomaren Katastrophe. Direkt neben den brennenden Teilen lagern laut Baumann komplett zusammengebaute Raketen mit Sprengköpfen. „Bis 22 Uhr haben wir ununterbrochen gelöscht. Nicht auszudenken, wenn die Feuer gefangen hätten.“
Kaum noch Spuren von damals
Unvorstellbar. Wer sich heute der Waldheide nähert, findet kaum noch Spuren von damals. Am Haupteingang beim Parkplatz Donnbronner Straße dokumentiert hinter der Schranke eine Beton-Stele mit Schautafeln die bewegte Historie. Inzwischen dient der ehemalige Stützpunkt für Vernichtungswaffen der Naherholung, nicht nur sommers, auch zur Winterzeit, wie die vielen Spuren im Schnee erkennen lassen. Spuren vom damaligen Unglück und von der früheren Nutzung gibt es indes kaum.
Altes Flugblatt am Eingang
Hinter der Schranke am Haupteingang sticht auf einem Schild eine Klarsichtfolie mit angenässtem Flugblatt ins Auge. Es kündigt für Sonntag, 10. Januar, einen Gottesdienst, einen Rundgang und eine Abendveranstaltung mit Erhard Eppler an - der 2019 gestorben ist. Schnell wird klar: Das von allerhand Friedensgruppen unterzeichnete Papier stammt aus dem Jahr 1988. Einige Schritte weiter zeigt eine effektvoll in Szene gesetze Tafel Wanderwege und Anlaufstellen im Stadtwald auf. „Wald-Heide“ steht da in großen Lettern. Ein Hinweis auf den Pershing-Unfall-Ort findet sich nirgendwo. Auf gut Glück folgen wir den Spuren im Schnee.
Gedenkstein am Unfallort
Im Norden zeichnet sich irgendwann ein Gebäude ab: ein Hubschrauberhangar, der längst als Schafstall genutzt wird. Unweit der Halle ragt eine Fahnenstange in den Himmel. Sie ist auf einem Betonblock fixiert, der wie ein Miniatur-Bunker anmutet. Direkt daneben ist ein Naturstein platziert. Alles ist mit Pflaster umfriedet, als handle es sich um eine Ruhestätte.
Und tatsächlich. Auf der Vorderseite des Felsens ist ein Messingschild befestigt. Jemand hat zwei kleine Stars-and-Stripes-Fähnchen dahintergeklemmt. „Lest we forget“ steht darauf, „Damit wir nicht vergessen“: John Leach, Todd A. Zephir und Darryl L. Shirley. Die Namen der drei amerikanischen Soldaten, die hier vor 36 Jahren ihr Leben verloren.