Wenn Menschen bei Unfällen verletzt oder getötet werden, sind sie häufig den Blicken Schaulustiger ausgesetzt. Diesen gewährt man zu viele Freiheiten. Doch das soll sich ändern.
Gaffer an Unfallstellen werden zunehmend zum Problem. Der Einsatz von Smartphones hat die Situation noch einmal verschärft. Schaulustige gaffen nicht nur auf die Unfallstelle. Sie nehmen das Unglück mit der Kamera ihres Mobiltelefons auf. „Das war früher nicht so. Wir prangern das an“, sagt Helmut Wacker von der Autobahnpolizei Weinsberg.
Die Polizei tut sich mit Schaulustigen schwer. „Wir haben an der Unfallstelle zunächst andere Aufgaben, als uns um diese Leute zu kümmern. Das Personal dazu haben wir gar nicht“, sagt er. Weshalb Menschen das Leid ihrer Mitmenschen filmen, kann sich Wacker nicht erklären.
Die Bundespolitik kennt das Problem der Video- und Fotoaufnahmen von Unglücksorten. Die Länder Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen stellten im Jahr 2016 einen Antrag auf eine Gesetzesänderung. Demnach droht Gaffern, die Verletzte an Unfallstellen filmen oder fotografieren, eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren (Paragraf 201a Strafgesetzbuch).
Gesetzeslücke soll geschlossen werden
Es klafft jedoch eine Gesetzeslücke, die auch knapp drei Jahre nach dem Vorstoß der drei Länder noch nicht geschlossen ist. Nach wir vor wird das Filmen und Fotografieren von verstorbenen Menschen nicht bestraft. Dies sei zwar im Koalitionsvertrag der Bundesparteien CDU/CSU und SPD vereinbart. Wann es Gesetz wird, konnte ein Sprecher des SPD-geführten Justizministeriums in Berlin auf Anfrage nicht sagen.
Für Rettungskräfte besteht das Problem von Gaffern nach wie vor. „Besonders pietätlos wird es, wenn es Tote gibt“, sagt Jürgen Vogt, Pressesprecher der Berufsfeuerwehr Heilbronn. Zwar werde bei Bedarf ein Sichtschutz aufgebaut. „Wir haben gegen Gaffer aber keine Chance. Das ist auch nicht unsere Aufgabe, dafür haben wir nicht das Personal.“ An erster Stelle stehen lebenserhaltende Maßnahmen bei verletzten Menschen. Deren Rettung habe Priorität. „Wir haben schon beobachtet, dass wir auf der einen Autobahnspur tätig sind und nach zehn Minuten knallt es auf der Nebenspur.“ Kilometerlange Staus sind die Folge.
Verletzte sind schutzlos ausgeliefert
Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) beobachtet die Entwicklung ebenfalls mit Sorge. „Wir nehmen zunehmend wahr, dass Gaffer filmen oder fotografieren. Da ist echt ein Problem“, sagt Markus Stahl, Rettungsdienstleiter beim DRK in Heilbronn. Früher habe es an technischen Möglichkeiten gefehlt, Verletzte oder Tote zu filmen. Die Menschen seien Gaffern schutzlos ausgeliefert. Rettungskräfte haben gar nicht die Man-Power, das zu verhindern und zum Beispiel Schaulustige an der Unfallstelle zu fotografieren, damit diese hinterher bestraft werden können. „Patientenversorgung hat Vorrang.“
Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, die Gesetzeslücke im Hinblick auf Film- oder Fotoaufnahmen von verstorbenen Personen zu schließen. Der Heilbronner CDU-Bundestagsabgeordnete Alexander Throm, stellvertretendes Mitglied des Rechtsausschusses im Bundestag, sagt: „Gaffer gefährden mit ihrer taktlosen Sensationsgier nicht nur das Leben anderer, sondern sie verletzen den höchsten Persönlichkeitsbereich, der auch bei Verstorbenen schutzwürdig ist.“ Dem müssen man mit strengeren Strafgesetzen begegnen.
Helmut Wacker von der Autobahnpolizei spricht sich klar für eine Strafverschärfung aus. „Gaffen sollte drastisch teurer werden. Wenn die Sanktionen ein spürbares Maß erreichen, sind Schaulustige bereit, ihr Verhalten zu ändern.“ Im Vergleich zu den europäischen Nachbarn sei Deutschland ein Niedrigbußgeldland. Wacker nennt Beispiele: „Österreich hat die Strafe für das Nichteinhalten einer Rettungsgasse um mehrere hundert Euro hochgeschraubt. Seither ist es besser geworden.“ In der Schweiz werden Raser deutlich härter bestraft als in Deutschland.
Verwundert ist Jürgen Vogt über das Verhalten mancher Eltern. „Dass sie nicht mit ihren Kindern die Unglücksstelle verlassen, verwundert einen schon.“ Vogt weiß von Unfällen, bei denen Eltern ihre Kinder dazu animiert haben, hinzuschauen.
„Die eigene Bedürfnisbefriedigung nimmt überhand“
Ein schwerer Unfall auf der Autobahn. Rettungskräfte kämpfen um Menschenleben. Auf der anderen Fahrbahnseite bildet sich ein Stau. Grund sind Gaffer, die den Unfall mit Mobiltelefonen filmen. Nina Wahn (29), Verkehrspsychologin beim ADAC, erklärt das Phänomen.
Weshalb gaffen Menschen, Frau Wahn?
Nina Wahn: Jeder Mensch trägt eine natürliche Neugierde in sich. Die ist angeboren. Sie ist wichtig, um aus Fehlern anderer zu lernen und Neues dazuzulernen. Besondere Ereignisse ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich. Es wird zum Problem, wenn die Gier überhandnimmt und Menschen ihre eigenen Motive über die Bedürfnisse anderer stellen. Autofahrer also an einem Unfall zu langsam vorbeifahren, keine Rettungsgasse bilden oder noch schlimmer, keine Erste Hilfe leisten.
Wo fängt Gaffen an?
Wahn: Wer hinschaut, verschafft sich im ersten Moment einen Überblick und fragt sich: Kann ich helfen? Was den Gaffer vom Schauenden unterscheidet, ist, dass er völlig das Bewusstsein darüber verliert, was sein Handeln für eine Auswirkung hat. Er kann nicht mehr ermessen, welchen Einfluss sein Verhalten auf Rettungskräfte, auf andere und auf ihn selbst hat. Die eigene Bedürfnisbefriedigung nimmt überhand.
Verhalten sich alle Menschen so?
Wahn: Nein. Es ist auch nicht immer so, dass Menschen, die an einem Unfall vorbeifahren und hinschauen, gleich gaffen. Schauen dient auch dem eigenen Schutz. Bringe ich mich selbst in Gefahr? Liegen Fahrzeugteile auf der Straße? Viele Menschen können selbstreflektiert Grenzen ziehen.
Ein relativ neues Phänomen ist Filmen oder Fotografieren am Unfallort.
Wahn: Ja, das wird zunehmend von Einsatzkräften beobachtet. Das Bewusstsein für die Situation fällt weg. Das Smartphone dient als Filter. Der Filmende versteckt sich gewissermaßen dahinter und entfernt sich dadurch vom Geschehen. Es geht darum, das Leben darzustellen und andere daran teilhaben zu lassen. Die Menschen zeigen, was sie erleben und deuten gleichzeitig darauf hin, was andere nicht erleben. Landen die Aufnahmen in sozialen Netzwerken, bleiben negative Rückmeldungen oft aus. Dadurch werden die Akteure in ihrem Verhalten bestärkt.
Haben solche Menschen kein Mitgefühl?
Wahn: Schwer zu sagen. Mitgefühl ist individuell unterschiedlich stark ausgeprägt. Es kann eine Zeitlang dauern, bis sich emotionale Reaktionen einstellen. Oft fragen sich die Menschen hinterher: Was habe ich da getan?
Wie lässt sich Gaffen verhindern?
Wahn: Das Problem ist präventiv anzugehen, bevor so ein Verhalten auftritt. Aufklärung hilft. Eltern sind Vorbilder und sollten Situationen mit Kindern im Verkehr üben. Auf keinen Fall sollte man Videos in sozialen Netzwerken positiv bewerten oder unterstützen.