Ein überbesetzter Reisebus, ein Schnellzug, Schranken, die am damals schienengleichen Bahnübergang nahe der Siedlerstraße zu spät geschlossen werden: Lauffens Bürgermeister Klaus-Peter Waldenberger erinnert bei einer Gedenkfeier 50 Jahre danach an die Katastrophe, die 45 Menschen mitten aus dem Leben gerissen hat.
Menschliches Versagen und unsagbares Leid: Die schwere Dampflok bohrt sich in den Bus, schleift ihn mit, zerquetscht ihn regelrecht. Dass aus dem Wrack 26 Frauen, Männer, Kinder lebend gerettet werden können, grenzt an ein Wunder. „Den Rettungskräften wurde am 20. Juni 1959 Übermenschliches abverlangt“, dankt Waldenberger Polizei, DRK und Feuerwehr.
Der Lauffener Kurt Rein ist an jenem heißen Sommertag zufällig in der Nähe und daher einer der Ersten am Unglücksort. Er ist ausgebildeter Helfer des Deutschen Roten Kreuzes. „Die Verletzten haben wir an Händen und Füßen zu den Privatautos geschleppt“, erzählt er am Gedenkstein in der Siedlerstraße. „Die Toten haben wir auf einen Lkw geladen, der sie zu einem Schuppen der Bahn gebracht hat.“ Mitarbeiter einer Firma eilen herbei, schweißen die Verletzten aus den Trümmern.
Mit tränenerstickter Stimme erzählt Rudy Schaber aus Kirchheim, einer der Überlebenden, vom schwärzesten Tag seines Lebens. Vor dem niedergelegten Kranz schildert er den 150 Menschen, die zur Gedenkfeier gekommen sind, was ihm nach dem Zusammenprall in Erinnerung geblieben ist. Der Schatten des Eilzuges Tübingen-Würzburg, der Aufprall, Wehklagen und Schreie, eine Stimme: „Da lebt noch einer.“ Das Ringen mit dem Tod. Und die Entlassung aus dem Krankenhaus am 13. April 1960. „Mein Sorgenkind, wir haben es geschafft“, klopft ihm der Chefarzt in jenen Tagen auf die Schulter.
Georg Schissler, damals 21 Jahre alt, weiß, dass seine Eltern mit diesem Bus zurück nach Lauffen fahren wollten. Panische Angst. Auf Höhe der Orgelbaufirma Rentsch sieht er den aufgespießten Bus: „Ein fürchterlicher Anblick.“ Seine Eltern sind nicht unter den Opfern. „Im überfüllten Bus haben sie keinen Platz mehr bekommen und mussten in Meimsheim zurückbleiben.“ Er kann das Glück der Familie noch heute kaum fassen.
Maria Löw, 46 Jahre alt, vier Kinder - sie überlebt das Unglück nicht. Maria Abendschön, ihre Tochter, steht jetzt am Mikrofon, fragt nach dem Warum: „Für mich gibt es Dinge, die man nicht verstehen kann. Gott möge mir verzeihen.“
Das „Vater unser“ mit Gemeindereferentin Irmgard Schmitt und Pfarrerin Stefanie Henger tut jetzt allen gut. Würdevoll, sanft und leise klingt die Gedenkfeier mit der Stadtkapelle Musikverein Lauffen aus.
Rückblick: Unglück fordert 45 Menschenleben
Vom Zusammenstoß selbst wird Rudy Schaber vollkommen überrascht: Der junge Mann steht im hinteren Teil des Omnibusses, unterhält sich mit einer früheren Nachbarin. „Dann war es plötzlich schwarz“, sagt der 72-jährige Kirchheimer. Einmal, als er kurz aus seiner Ohnmacht erwacht, hört er jemanden rufen: „Der lebt auch noch!“ Dann taucht er wieder weg.
In diesem Moment weiß Rudy Schaber nicht, dass er das schlimmste Bus- und Zugunglück der Nachkriegszeit überlebt hat. Am Spätnachmittag des 20. Juni 1959 erfasst der Eilzug 867 Tübingen-Würzburg am Bahnübergang in Lauffen einen mit 71 Personen besetzten Omnibus. 37 Männer, Frauen und Kinder sterben an der Unglücksstelle oder am Tag danach, acht weitere im Lauf der nächsten Wochen in den Krankenhäusern Lauffen, Brackenheim und Heilbronn. 25 Menschen erleiden zum Teil schwere Verletzungen. Ein achtjähriges Mädchen aus Brackenheim kommt mit geringfügigen Blessuren davon.
Viele Ungarndeutsche
Aus Meimsheim ist der blaue Zabergäu-Bus gekommen. Dort sind, nach der Beerdigung eines Landsmanns, viele Ungarndeutsche, alle aus dem Dorf Leànyvàr, zugestiegen. Der Bus, eigentlich nur für 59 Personen zugelassen, ist völlig überfüllt. Nicht alle, die mitwollen, finden einen Platz.
Auch Rudy Schaber ist in Meimsheim, seiner damaligen Wohngemeinde, zugestiegen. Er will zum Zug nach Bietigheim, wo er sich mit Freunden „zu einem vergnüglichen Abend“ verabredet hat. Er registriert noch, wie das schwer beladene Fahrzeug die Anhöhe hinauf schnauft, wie es sich dem Bahnübergang nähert. Alles andere muss er sich später erzählen lassen.
Um 17.32 Uhr überquert der Bus die Gleise am Posten 47. In diesem Moment ist der Schrankenwärter dabei, die Schranken herunterzukurbeln. Zu spät. Mit 80 Stundenkilometern rast der Zug heran, weder das Warnsignal des Lokomotivführers noch die Schnellbremsung können die Kollision verhindern. Die Puffer der schweren Lok bohren sich in den Bus, schleifen ihn mit. Erst nach 400 Metern kommt der Zug zum Stehen.
Den herbeistürzenden Lauffenern und den wenig später eintreffenden Rettungskräften - Polizei, Feuerwehr, Rotes Kreuz, der Sanitätszug der in Heilbronn stationierten US-Soldaten - bietet sich ein schreckliches Bild. Überall liegen tote Menschen. Vom Bus ist nur noch ein demolierter Blechhaufen übrig geblieben. Verletzte schreien.
Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht. Immer mehr Angehörige treffen ein, außer sich vor Sorge. Auch Georg Schissler. Auf dem Fußballplatz hat der Lauffener von dem Unglück erfahren. „Wir kommen mit dem Bus zurück“, hatten die Eltern gesagt, als ihre Söhne sie mit dem Motorroller in Meimsheim absetzten. Auch sie waren bei der Beerdigung. Jetzt hastet Georg Schissler am Bahngleis entlang, vorbei an zugedeckten Toten. „Da schauten nur noch die schwarzen Schuhe und die schwarzen Strümpfe hervor.“ Beerdigungsgäste. 14 Ungarndeutsche aus Leànyvàr sind unter den Toten. Doch seine Eltern leben. „Sie sind nicht mehr in den Bus gekommen“, erfährt der erleichterte Sohn. „Sie haben Bekannten den Vortritt gelassen, die auf den Zug mussten.“ Mit Tränen in den Augen schließt er die Eltern wenig später in die Arme.
Ernst Wörthmann, damals 22, trifft mit der ersten Gruppe der Lauffener Feuerwehr am Unglücksort ein. Zu diesem Zeitpunkt sind Arbeiter der nahe gelegenen Firma Kurz bereits dabei, mit Schweißbrennern Menschen aus dem Wrack zu schneiden. Die Wehrleute sichern mit Feuerlöschern ab, dann wird Wörthmann abgezogen, um mit einem Kollegen und einem Polizisten die Unglücksstelle zu vermessen und alles zu notieren, was da verstreut herumliegt, „von der Kasse des Busfahrers bis zu Leichen und Körperteilen.“ Er konzentriert sich auf seine Aufgabe, lässt, was er sieht, gar nicht an sich heran. Erst zu Hause, nach dem Einsatz, hat's ihn „gepackt“, erinnert sich der Küfer. Das Vesper schiebt er zur Seite. „Da konnt' ich nicht mehr, da hab' ich geweint.“
Im Chaos Rudy Schaber kriegt von dem Chaos ringsum kaum etwas mit. Irgendwie wird der Eingeklemmte befreit. Die erste konkrete Erinnerung verbindet er mit der Lauffener Krankenhaushalle, mit dem Geschrei und Gejammer von Verletzten. Schaber hat tiefe Schnittwunden und viel Blut verloren, lange Monate wird er das Krankenbett hüten müssen, bis seine Verletzungen, vor allem der Trümmerbruch im Knie, verheilt sind.
Der ehemalige Berufsschulllehrer hat das Unglück gut verarbeitet. Gegen den Schrankenwärter, der später, nach insgesamt drei Gerichtsverfahren, wegen fahrlässiger Tötung zu einer milden Bewährungsstrafe verurteilt wird, hegt er keinen Groll. Nur wenn er über Bahngleise fährt, ist es ihm immer noch mulmig. „Ich lebe jeden Tag bewusst und dankbar“, sagt der 72-Jährige. „Und immer am 20. Juni sage ich zu meiner Frau: Heute hab' ich Geburtstag.“
Hintergrund: Anteilnahme
Das Busunglück erschütterte das gesamte Unterland. Das Schicksal der Verunglückten ging den Menschen nahe. Beim evangelischen Pfarramt Lauffen meldeten sich zwei Familien und erklärten sich bereit , ein Kind, das durch das Unglück elternlos geworden war, bei sich aufzunehmen. In den Akten der Stadt Lauffen findet sich aber auch ein Brief eines auswärtigen Beamten. Er hatte dem Lauffener Bürgermeister Hans Roller ein Päckchen geschickt, mit der Bitte, es an die Frau und die Kinder des Schrankenwärters weiterzuleiten. Sie seien „völlig unschuldig von dem schweren Leid in jeder Weise in Mitleidenschaft gezogen“ worden. Der Spender fügte seinen Gaben „auch einige tröstende, aber anonyme Worte“ bei.
Trauma ein Leben lang nicht bewältigt
Elisabeth Herzog erinnert sich noch gut an den 20. Juni 1959, diesen „sehr, sehr heißen Tag“, der auch ihr Leben verändert hat. Ihre Mutter Anna Baumstark, damals 42 Jahre alt, saß, ebenso wie die Großmutter, in dem Unglücksbus. Beide überlebten schwer verletzt. Überwunden hat ihre Mutter das Erlebte nie. „Sie hat ihr Leben lang darunter gelitten“, sagt ihre Tochter.Die Mutter war an jenem Samstag zur Beerdigung des ungarndeutschen Landsmanns nach Meimsheim gefahren. Die 19-jährige Elisabeth blieb in Lauffen, half dem Vater im Friseurladen. Sie weiß noch genau, wie am späten Nachmittag ein Bekannter außer Atem in den Laden stürmt: „Andreas, komm schnell, es ist etwas Schreckliches passiert.“
Der Vater lässt alles liegen, springt auf ein Feuerwehrauto. Die Tochter wird von einem Kunden mit dem Motorrad zur Unfallstelle chauffiert. Dort ist alles abgesperrt, aber der Mann ruft immer wieder: „Ihre Mutter ist auch dabei!“. Sie dürfen passieren. Voller Angst rennt Elisabeth zu den Gleisen. „Es war ein Bild des Grauens“, sagt sie. So viele zugedeckte Leichen. Und die Mutter? „Ich muss wie irre herumgelaufen sein“, sagt die heute 69-Jährige. Dann kommt ein Bekannter auf sie zu: „Deine Mutter lebt, aber sie hat wohl beide Beine ab.“ Die Tochter ist schockiert und erleichtert. Sie geht nach Hause, richtet für die Mutter eine Tasche mit Bademantel, Waschzeug, Nachthemd.
Anna Baumstark musste aus dem Wrack herausgeschweißt werden. Sie hat Quetschungen, Brüche, schwere innere Verletzungen. Als eine der Letzten wird sie gegen Mitternacht im Heilbronner Jägerhaus-Krankenhaus operiert. Sie behält ihre Beine, doch sie leidet ihr Leben lang an den Verletzungen. Bei jedem Wetterumschwung hat sie Schmerzen. Die Tochter hat ihr Stöhnen noch im Ohr. „Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?“, hat die Mutter, die bis 1989 gelebt hat, immer wieder gefragt.
Dass sie so schwer an dem Trauma getragen hat, führt Elisabeth Herzog auch darauf zurück, dass Anna Baumstark bei dem Unglück dicht beim Fahrer stand: „Sie hat den Zug kommen sehen - und konnte überhaupt nicht reagieren.“
Bild 1: Nur noch ein Haufen Blech: der total zerstörte Linienbus. Er wurde nach dem Zusammenstoß von dem Eilzug 400 Meter weit mitgeschleppt.Bild 2: Rettung von Verletzten: Deutsche und amerikanische Sanitäter halfen mit.Bild 3: Eine Gedenktafel erinnert an das schwere Unglück vor 50 Jahren.(Fotos: HSt Archiv/Eisenmenger)